Die Beleidigung

Die Ehepartner Egozentrismus und Verwundbarkeit konnten lange Zeit keine Kinder erzeugen. Zuerst fühlten sie sich ratlos und traurig, aber dann unzufrieden, böse und beschuldigten das Schicksal. Es war sehr beleidigend, wenn man ein großes Haus hat, aber keine Nachfolger. Man konnte seine Vorstellungen über das Leben, sein Paradigma, sogar

sein Konservatismus gemeinsam mit den gesammelten Erfahrungen an keinen weitergeben.

Viel Zeit verging, bis endlich ein Mädchen bei ihnen geboren wurde, die sie Beleidigung genannt haben. Die stolzen und ehrgeizigen Eltern befolgten ein ziemlich strenges System der Werte, das aber sichtbar ihre Vorstellung über die Weltordnung begrenzt hatte. Aber nichts konnte sie dazu bringen, die Richtigkeit ihrer Ansichten kritisch zu betrachten. Mit ihren

Vorurteilen, ihrem Misstrauen, ihren wertenden Beurteilungen brachten sie ihrer Tochter von Kindheit an so viele Bedingtheiten bei, dass so ein Programm sich in ihrem Bewusstsein gebildet hatte, welches über eine zerstörerische Kraft solchen Ausmaßes verfügte, dass keiner

es sich vorstellen konnte. In der eigenen Selbstliebe zählte das in der Beleidigung erzogene bedingungslose Folgen dem Klischee der Gerechtigkeit als ein besonderer Verdienst. Die elterliche Erbschaft beeinflusste ihr Wahrnehmen der Realität ganz deutlich und machte sie

zweifellos sogar zu den eigenen Illusionen empfindlich.

Beleidigung wuchs schnell. Bald hat sie gelernt, zu bemerken, dass die Realität mit den angeeigneten idealen Vorstellungen darüber, wie die anderen mit ihr umgehen sollten, nicht übereinstimmte. Der Beleidigung ist nicht eingefallen, dass ihre Anforderungen nicht immer

erfüllbar sind, dass jeder seine Willensfreiheit hat und auch die Wahlfreiheit, wie man sich in unterschiedlichen Situationen verhalten kann. Öfters konnte Beleidigung nicht begreifen, dass Vieles ihrer Meinung, wie es richtig wäre, zuwider ging, und fühlte sich ständig beleidigt.

Denn sie war sich sicher, dass sie in ihren Handlungen und Bewertungen immer gerecht war.

Deswegen wenn sie mit den anderen Gefühlen und Emotionen kommunizierte, dachte sie, dass sie einen Grund dafür hatte, sie kritisch zu betrachten. Denn sie ließen die Erwartungen unerfüllt, sie ließen andere von ihren Handlungen leiden. Diese verkehrte Ansicht der anderen

störte ihre Interaktion mit der Umgebung. Beleidigung flammte sofort auf, wenn andere sich nicht so verhalten hatten, wie sie es sich wünschte. Je sympathischer für sie diese Person war, desto mehr beleidigt fühlte sie sich. Das half nicht in einer Beziehung. Es gab kaum jemanden, der Beleidigung leiden konnte, so wurde ihr Freundeskreis immer kleiner. Die

Beleidigung konnte sich aber davon nicht abhalten, andere ständig zu beurteilen, da sie glaubte, sie hätte genug Gründe, dies zu tun. Ärger und Besorgnis waren ihre Reaktion auf den eigenen Irrtum in Bezug auf die tatsächliche Lage der Dinge. Aber sie konnte es kaum ahnen, denn sie war von Hochmut und tödlicher Selbstliebe beherrscht. Sie enthielt keine

Liebe, keine Demut, keine Sanftmut, keine Weisheit. Die fehlerfreie und vernünftige Beleidigung fühlte sich befriedigt, wenn sie sich mit den anderen verglichen hatte. Denn es ist so ein süßes Gefühl, unermesslich die Beste in der Umgebung zu sein. Es gefiel ihr immer mehr, sich beleidigt zu fühlen, dabei oft sogar grundlos, so eine süße Bitterkeit von der

Beleidigung. In ihrem Unterbewusstsein setzte sich das Leiden von den unerfüllten Erwartungen gründlich fest, ihre Empfindlichkeit, die zu ihrer Visitenkarte geworden war, half die anderen zu manipulieren. Also, Beleidigung genoss sogar die tödliche Empfindlichkeit. Sie war verzehrend, bösartig und umbringend.

Beleidigung hatte eine enge Freundin Schuld. Für die beiden schien das bunte und komplizierte Weltbild primitiv schwarz-weiß, einfach und klar zu sein. Eine gemeinsame Eigenschaft brachte sie einander näher – das ewige Suchen nach den Schuldigen, also wieder ein Widerstand der Beleidigten. Ach, was soll’s: jede Beleidigung ruft schutzhaftes Verhalten hervor.

Wer weiß, wie lange es noch gedauert hätte, aber eines Tages spürte Beleidigung etwas Neues in ihr geboren. Das andere Aggressive begann ihr Gleichgewicht zu zerstören. Diese bösartige Neubildung in ihr, die sie vom Inneren erstickte und zerfraß, begann sie zu überwältigen, sich mit ihrer ständigen starken Empfindlichkeit ernährend. Die Anmaßung spielte der Beleidigung einen bösen Streich. Endlich hatte sie verstanden, dass die Empfindlichkeit der Zustand ihrer Seele war. Ausgerechnet sie störte ihren innerlichen Lebensraum, einem geborenen Ungeheuer aufzuwachsen geholfen, damit es in einem unerwarteten Moment zum Herrn der

Lage wurde.

Die Angst versetzte Beleidigung zuerst in Panik, Verzweiflung. Die sich öffnende Kluft sehend, wurde der Selbsterhaltungstrieb wach. Dann bekam die Märtyrerin eine Chance, sich zu retten, um sich von der Empfindlichkeit zu befreien. Ohne zu zögern, sich von den Gefühlen der Beleidigung, der Verwundbarkeit zu verabschieden, ihre illusorischen

Lebenseinstellungen zu überarbeiten, ihre destruktiven Prinzipien loszuwerden, auf ihre früheren Vorteile – Beurteilungen und Gefühle ihres eigenen Rechts – eindeutig zu verzichten. Die grundlegende Ausrottung der Empfindlichkeit fordert von einem eine absolute Vergebung der Beleidiger.

Früher oder später kommt die Zeit, die echte Weisheit zu begreifen, damit man weniger Anlässe für Beleidigungen findet und nicht jeden von anderen angetanen Schmerz für absichtlich hält. Man sollte vermeiden, sein Gedächtnis mit den Beleidigungen zu verstopfen, denn irgendwann bleibt da keinen Platz mehr für die schönen Momente, aus denen das

 

wunderbare Mosaik des Lebens besteht.